Der Fluch des Ersthelfers

Wer häufiger mit der Bahn unterwegs ist, der kennt vermutlich die folgende Durchsage: “Verehrte Fahrgäste, wenn sich ein Arzt oder Ersthelfer im Zug befindet, soll dieser sich bitte beim Zugpersonal in Wagen XY melden.“ Für den Otto-Normal-Reisenden bedeutet diese Ansage nur eins: “Hoffentlich kriege ich meinen Anschluss noch.“ Wahlweise auch “Och nö. Nicht ausgerechnet heute, wo ich doch um YZ Uhr in ZY sein muss.“ Nun ja, für mich bedeutet diese Ansage: “Nicht schon wieder.“ Anders als die meisten anderen denke ich in dem Moment aber nicht über die unweigerlich eintretende Verspätung des Zuges nach – da eine Ausbildung zum Rettungssanitäter absolviert habe bedeutet die Ansage nur eins: “Los geht`s.“ und „Nicht schon wieder“ bedeutet, dass mir sowas leider häufiger passiert. So denn auch vor einigen Tagen in einem Intercity Richtung Hamburg.

Als ich aufstehe starrt mich nahezu jeder im Umkreis forschend an. Man wartet gespannt, in welche Richtung ich mich wohl aufmache. “Erstmal orientieren – nicht rennen.“ Ja, im Gegensatz zum Film rennt man im Rettungsdienst besser nicht. Ein Ausbilder hat uns das so erklärt: “Wenn du rennst, dann außer Atem beim Patienten ankommst und dann keinen verständlichen Satz herausbekommst, wem hilft das? Geht zügig, aber rennt nicht!“. Nach meinem ersten Sprint zum Kranken-/Rettungswagen, um über Funk einen Notarzt nachzufordern wusste ich was er meinte: Ich habe dann am Funkgerät so dermaßen gestammelt bzw. gehechelt, dass man mich nicht klar verstehen konnte. Wäre ich zügig gegangen, hätte ich das schneller an den Mann/die Frau gebracht.
Aber zurück zum Zug. Ich mache mich also zügig auf zu Wagen XY. Unterwegs macht man mit respektvoll Platz. In diese Richtung geht eh niemand, man könnte ja glauben er oder sie habe sich angesprochen gefühlt. Meine Gedanken kreisen um das, was mich erwarten mag. Diese Ansage bedeutet meistens nichts gutes. Wegen einer Schnittwunde oder Kopfschmerzen wird so was nicht durchgesagt.

Immerhin rollt der Zug – so ein “Unfall mit Personenschaden im Bahnverkehr“ kann einem die Laune schon ziemlich verderben. Dieser Patient wird wohl zumindest noch in einem Stück sein. Das klingt makaber, aber hey, so ein Zug mit Tempo 150+ macht keine halben Sachen.

Angekommen in Wagen XY sehe ich zwei Zugbegleiterinnen und einem jungen Mann, der vor einer spaltbreit offenen Toilettentüre steht. Ich stelle mich vor: “Hallo, ich heiße Jan und bin Rettungssanitäter.“ Ein Hauch vom Erleichterung huscht über das Gesicht des jungen Mannes und er tritt beiseite und gewährt mir den ersten Blick auf das Geschehen.
Als erstes fällt mir sofort der schwappende Boden auf. Die Farbe ist relativ klar, also kein Blut. Ein Blick auf die Hose des auf dem Klo sitzenden Mannes bestätigt meinen ersten Verdacht: Sie ist nass aber zumindest ist sie hoch gezogen. Der Mann sitzt relativ bequem auf der Schüssel, komplett anfertigen, vornüber gebeugt, die Augen zu und komplett eingenässt. Die Zugcheffin kommt auf mich zu und erklärt, sie habe ihn so gefunden und er reagiere auf nichts. Ob ich irgendwas brauchen würde. “Handschuhe.“ sind mein einziger Wunsch – für `s erste. Schauen wir uns unseren Patienten mal an: Die Gesichtsfarbe ist normal, dürre Lippen sind rötlich. Ich beuge mich vor und spreche ihn an. Keine Reaktion. Also greife ich mir sein Handgelenk und taste nach dem Puls. An Boden steht noch eine volle, verschlossene Flasche Sekt.
Als ich den Arm so drehe, dass ich den Puls fühlen kann – etwas schwach aber rhythmisch – öffnet der Man der Mann seine Augen. Okay, lebensbedrohlich scheint die Lage für ihn nicht zu sein. Hinter mir erscheint eine junge Frau und ich höre noch:
“Ich bin Ärztin.“ Ich drehe mich kurz um und stelle mich vor und freue mich, die Verantwortung abgeben zu können. Da sagt sie leise: “Ich bin aber grade erst mit dem Studium fertig geworden.“ Okay, scheint so als bliebe dies mein Patient. Die Zugcheffin fragt mich, ob ich den Arztkoffer brauche. Ein Arztkoffer im Zug? Dass schaue ich mir mal an, also bejahe ich und sage, zumindest den Blutdruck messen wäre sinnvoll. Inzwischen hat eine weitere Zugbegleiterin Einmalhandschuhe aufgetrieben, in anbetracht der schwappenden Pfütze sehr beruhigend, auch wenn ich mir jetzt zusätzlich einen Schuhüberzieher wünsche. Naja, man kann nicht alles haben.
Der Patient ist inzwischen wieder weggedämmert. Also rüttelte ich ihn wach. So richtig funktioniert das nicht, aber man erkennt, das er sternhagelvoll ist. Die Kleidung ist leicht verschlissen und etwas schmutzig, wie ein Stadtstreicher sieht er aber nicht aus.
Viel bekomme ich aus ihm nicht heraus. Er will nach Hamburg. Und ich soll nicht so viel Fragen. .Ich versuche ihm klar zu machen, dass ich mich überzeugen muss, ob alles in Ordnung ist. Da er immer wieder wegdämmert, fragt mich die Zugcheffin , ob wir einen Notarzt brauchen. Tja, sieht so aus. Von alleine wird dieser Mann so schnell nicht wieder fit genug. Der Arztkoffer kommt und ich bin beeindruckt:
Die Bahn scheint auf allen Fernverbindungen einen kompletten Notfallkoffer mit allem notwendigen mitführen. Sogar einen Satz Medikamente gibt es. Für uns Reichen aber vorerst die Blutdruckmanschette, das Stethoskop und das Blutzucker Messgerät. Die Werte sahen alle recht normal aus.
Ich gehe jetzt nicht weiter ins Detail: Dem Mann ging es so weit gut, er war halt nur hackendicht. Ich habe mich dann auf dem Weg zum nächsten Bahnhof noch ein bisschen mit der frisch examinierten Ärztin unterhalten und den Patienten an den Rettungsdienst übergeben. Als keines Dankeschön bekam ich einen Gutschein von der Bahn, aber ehrlich – darum geht es mir bei dies nicht. Ich Helfer gerne und bin in solchen Momenten froh, dass nichts schlimmeres passiert ist. Und dank der schnellen Übergabe an den Rettungsdienst im nächsten Bahnhof hatten wir auch nur fünf Minuten Verspätung.
Und diese halbe Stunde im Zug ging rasend schnell vorbei.

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